Aufklärung und Kirchenrecht. ‚Deutsche‘ Kanonistik im 18. Jahrhundert

Aufklärung und Kirchenrecht. ‚Deutsche‘ Kanonistik im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Thomas Wallnig, Institut für Bayerische Geschichte, Ludwigs-Maximilain-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.06.2023 - 28.06.2023
Von
Tassilo Soos, Institut für Bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kanonistik und Aufklärung wirken selbst auf Historiker:innen wie herabwehende Banner des wissenschaftlichen Elfenbeinturms. Dessen zum Glück unbeeindruckt, widmete sich der Workshop genau dieser Thematik und verschrieb sich der Neulektüre einschlägiger Texte des langen 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Kaiser und Papst einerseits und Kaiser, Fürsten und Reichskirche andererseits. Die gelehrt-juristischen Auseinandersetzungen im Kontext von Staatskirchentum und neuzeitlicher Staatsbildung stellten somit den Fokus der Veranstaltung dar.

Gliedern sollte sich die Diskussion anhand von vier Texten der Zeit, die den Teilnehmenden des Workshops zusammen mit einordnender Literatur vorbereitend zur Verfügung gestellt worden waren und jeweils von den Referenten einleitend vorgestellt und problematisiert wurden.

Zunächst verwies FERDINAND KRAMER (München) in einer Einführung anhand der öffentlichen Wahrnehmung des Todes Peter von Osterwalds 1778 und der zeitgleich einsetzenden politischen Krisen in Bayern, insbesondere des bayerischen Erbfolgekriegs, auf die Bedeutung der juristisch-publizistischen Debatten für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Epoche.

THOMAS WALLNIG (Wien/München) stellte drei zentrale Kontexte in den Vordergrund, die ausschlaggebend für die Neubetrachtung der kirchenpolitischen und kanonistischen Debatte des 18. Jahrhunderts seien: Dies sei zum einen die übliche Vermengung von theologischen und ekklesiologischen Fragen, die es zu durchbrechen gelte. Zum anderen löse sich die frühneuzeitliche Wissensgeschichte zunehmend von konkreten Kontexten, wodurch eine geschärfte Terminologie für den behandelten Gegenstand verloren gehe. Als dritten Punkt stellte Wallnig den Prozess der modernen Staatsbildung heraus. Die Analyse dieser Staatsbildungsprozesse müsse berücksichtigen, dass sie auf sich neu orientierenden Eliten aufbauten, in vielen Fällen entlang religiöser Strukturen wie den Ordensprovinzen verliefen und schließlich gegen andere Rechtsstrukturen wie etwa die des Heiligen Römischen Reichs, aber eben auch der katholischen Kirche erfolgt seien.

Das von Thomas Wallnig zur Diskussion gewählte Werk „De statu ecclesiae“ des Trierer Weihbischofs Johann Nikolaus von Hontheim, das unter dem Pseudonym Justinus Febronius veröffentlicht wurde, zielte auf eine vermutete ursprüngliche Verfasstheit der Kirche der ersten acht Jahrhunderte, die in der Folgezeit durch die pseudoisidorischen Fälschungen und anschließende Entwicklungen verfälscht worden sei. Anhand der Vorreden des Febronius an Papst, christliche Könige und Fürsten, Bischöfe und Kanonisten wies der Referent darauf hin, dass Hontheim einerseits den Papst in einem leitenden und moderierenden Amt sah, das durch die Kurie aber nicht machtpolitisch missbraucht werden dürfe. Andererseits ging es, wie aus der Ansprache an die christlichen (!) Könige und Fürsten hervorgehe, durchaus darum, eine interkonfessionelle Brücke zu schlagen. Des Weiteren appellierte Hontheim an die Bischöfe, sich ihres Amtes und ihrer alten Rechte wieder zu vergewissern. Schließlich verwies er die Kanonisten, die er besonders mit kirchlichen Orden assoziierte, sich in ihrer Rechtsgelehrsamkeit nicht auf die pseudoisidorischen Fälschungen zu berufen. Wallnig ging es im Anschluss nun nicht um das Ziel oder die Folgen des Febronius, sondern um den Ursprung des sich darin offenbarenden Denkens: Die niederländisch-französischen Einflüsse und die Konstruktion einer Urkirche sollten dabei jedoch nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr ginge es erstens um das Verhältnis zwischen Text, Öffentlichkeit und den tatsächlichen juristischen Vorgängen, die sich etwa im Zusammenhang der Aushandlung der Wahlkapitulation Karls VII. erkennen ließen. Neben der Polemisierung gegen die Orden seien das Umfeld der Gründung des Erzbistums Wien, der Bemühungen der Reichskirche, ihren Bestand zu sichern und der Diskussion über die kaiserliche Vormachtstellung gegenüber den Reichsständen zentral. Ein weiterer zugrundeliegender Kontext sei der Aufbau einer deutschen Kanonistik seit den 1720er-Jahren, vertreten etwa durch den in Würzburg lehrenden und für Hontheim prägenden Johann Kaspar Barthel.

In der Folge rückte die Problematik der Doppelung beider Jurisdiktionen als Spezifikum der Reichskirche mit ihrem besonderen Rechtfertigungsbedarf gegenüber der Weltkirche und den Protestanten im Reich in den Fokus. Dabei sei zu fragen, inwieweit Hontheim oder andere einschlägige Autoren wie Bernhard Pez oder Gottfried Bessel dieses Proprium der Reichskirche zu begründen versuchten und welche Rolle bei solcher Argumentation das Naturrecht gegenüber der Kanonistik spielte. Diese Frage zeige als geistlichen Hintergrund des Diskurses weniger den tatsächlichen Wunsch nach einer Rekonstruktion der Urkirche als vielmehr den Versuch einer Besitzstandswahrung im Gewand von Kanonistik und öffentlichem Diskurs als Reaktion auf die Gegebenheiten im Reich auf.

Die Diskutierenden stellten die Flexibilität der Argumentation heraus, die gerade in Bezug auf die Polemik gegen die Orden diese einerseits als Projektionsfläche für ihre Angriffe nutzen und andererseits die Orden als weitere Eigenheit der katholischen Kirche gleichzeitig verteidigen konnte. Die verwendeten Argumentationsmuster würden außerdem die Frage nach der Bedeutung scholastischer Disputführung aufwerfen, die teilweise auf eine Fortführung alter Denkmuster mit moderner Stoßrichtung verweise. Das Konzept der Urkirche wiederum sei vor allem als propagandistische Waffe mit einer gewissen Integrationsfähigkeit von Bedeutung gewesen, per se aber ahistorisch. Zuletzt wurde konstatiert, dass die Reichskirche und ihre Verfasstheit als eigene Problematik bei Febronius umschifft und so auch die Frage der Souveränität ausgespart werde.

MARKUS C. MÜLLER (München) widmete sich im Anschluss den beiden bayerischen Akteuren Johann Georg von Lori und Peter von Osterwald vor dem Kontext der Regierungsübernahme von Kurfürst Max III. Joseph und der gewaltigen Staatsschulden Bayerns. Lori und Osterwald, die in der Forschung als Gegenspieler gedeutet werden, würden sich von ihrer Zielsetzung nicht zentral unterscheiden. Die Gegnerschaft Loris gegenüber Osterwald sei hingegen weniger im Werk als in den persönlichen Werdegängen, insbesondere dem von Lori angestrebten, aber von Osterwald vollzogenen Aufstieg zum Direktor des Geistlichen Rats zu suchen. Der Diskussion zugrunde lag Osterwalds Schrift über die geistliche Immunität in weltlichen Dingen. Müller legte den Fokus besonders auf die Rolle des Heiligen Stuhls gegenüber der von Osterwald argumentativ begründeten und von Kurbayern in Angriff genommenen landesherrlichen Besteuerung des Klerus. Vor allem vor dem Hintergrund des entschiedenen Protests des bayerischen Episkopats auf dem Salzburger Kongress (1770), der Kurbayern mit seiner Einigkeit und Vehemenz völlig überrascht habe, sei festzuhalten, dass das Papsttum in dieser Frage sich als flexibel und gegenüber Kurbayern nachgiebig erwies. Müller legte dar, dass einer der entscheidenden Schritte Osterwalds in der Dekonstruktion der kirchenrechtlichen Position bestand.

Im Plenum wurde zunächst der Zusammenhang mit der seit dem 16. Jahrhundert auf Souveränität zielenden bayerischen Kirchenpolitik problematisiert. Dabei wurde klar, dass eine solche bayerisch-historische Argumentation zwar von Lori, aber nicht von Osterwald vertreten wurde. Besonderes Interesse der Diskussion erregten die bayerischen Prälaten und ihre Stellung gegenüber der Debatte über die Besteuerung des Klerus. Diese seien als Landstände schon immer der landesherrlichen Besteuerung ausgesetzt gewesen, diesen staatlichen Forderungen aber auch stets bereitwillig nachgekommen. Mit zunehmender Radikalität der Forderungen seien sich die Prälaten als bisherige Stütze des Landesherrn in ihrer Rolle aber zusehends unsicher geworden. Dieser Befund zeigte sich auch bei der aufkommenden Frage nach Gegenstimmen zu Osterwald in der gelehrten Debatte über die Besteuerung des Klerus. Während die Orden rebelliert hätten, seien die Prälaten von der Entwicklung und ihrer Stellung zwischen Landesherrn und Bischöfen überfordert gewesen. Aus diesem Kreis sei daher kaum Kritik an den Maßnahmen des bayerischen Staates gekommen. Rainald Becker wies darauf hin, dass solche Gegenstimmen erst am Vorabend der Säkularisation aus volkswirtschaftlicher Sicht die Bedeutung der Klöster für den Staat dargelegt hätten. Diese Stimmen hätten aber im Diskurs nicht mehr verfangen. Im Gegensatz zur gelehrten Debatte wurde gerade vor dem Spiegel der Unbeliebtheit Osterwalds bei den Zeitgenossen nach der Wahrnehmung der josephinischen Reformen in Bayern gefragt. Ferdinand Kramer wies darauf hin, dass die Reformen Josephs II. in Bayern vor allem wegen der Person des Kaisers nicht auf Wohlwollen treffen konnten, da Joseph II. mit der Erbfolge- und Tauschpolitik sowie der Klosterpolitik sich in Bayern gleich in zweifacher Sicht zum Feindbild gemacht hatte. Abschließend wurde anhand des Textes Osterwalds wiederum auf die Kontextabhängigkeit der Argumentationen hingewiesen, die sich vor allem an der jeweiligen Zielgruppe orientierte und demenstprechend kanonistisch gegen Kanonisten oder reichsrechtlich gegen Reichsjuristen argumentiere.

Im folgenden Beitrag widmete sich RAINALD BECKER (Augsburg) dem Phänomen der Religionsfreiheit in Nordamerika – insbesondere in Pennsylvania – aus Perspektive dort missionierender deutscher Jesuiten. Becker wählte für seine Ausführungen Texte von Jesuiten aus dem oberdeutschen Raum, die in Pennsylvania Zeugen der dortigen religiösen Vielfalt, Koexistenz und Religionsfreiheit geworden waren. Die Wahrnehmung der Religionsfreiheit durch die Jesuiten hatte demnach zunächst zwei Aspekte: Einerseits waren die vom Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche überzeugten Jesuiten von der dort herrschenden religiösen Toleranz überrascht und irritiert. Diese Überraschung wich andererseits einer gewissen Einsicht vor dem Erfahrungshorizont der europäischen Verhältnisse mit Religionskriegen und Verfolgungen. Becker machte deutlich, dass die jesuitischen Missionare die Religionsfreiheit besonders aus der Stellung des Katholizismus als Mikro-Minorität in Pennsylvania – neben einer Anzahl protestantischer Gruppierungen, bis hin zu den „Freidenkern“ – bewerteten und daher aus praktischer Sicht trotz dogmatischer Distanz zu einer Wertschätzung gegenüber dem staatlichen Schutz der Religionen kamen. Die Freiheiten und Sicherheiten, auf die die Katholiken dadurch in Pennsylvania bauen konnten, führten auch im Vergleich zu anderen umliegenden (protestantischen) Kolonien zu einer anwachsenden positiven Einschätzung. Dies wiederum mündete besonders angesichts der Auflösung des Jesuitenordens, die in Pennsylvania staatlich nicht vollzogen wurde, in einer kritischen Sicht auf das europäische Staatskirchentum.

In der Diskussion wurde ein Fokus auf die sprachlichen Begebenheiten vor Ort und auf das Ziel der Publikation der Jesuiten-Briefe gelegt. Die Veröffentlichung der übersetzten jesuitischen Briefe im „Neuen Welt Bott“ ermöglichte die Mobilisierung von Ressourcen für die Übersee-Mission. Sowohl die humanen als auch finanziellen Ressourcen des mitteleuropäischen Raums konnten so abgeschöpft werden. In Bezug auf die Wechselbeziehungen mit Blick auf Europa wurde insgesamt herausgearbeitet, dass die amerikanischen Jesuitenbriefe eine Spiegelung der europäischen Konfessionsgeschichte darstellten, die stets den europäischen Horizont als Maßstab heranzogen. Ausgangspunkt aller Amerika-Wahrnehmung durch die Jesuiten blieb die Religion.

Zum Abschluss legte FRANZ FILLAFER (Wien) den Einfluss des Reichsrechts auf Verfassung und Verfasstheit des 1804 neu entstandenen Kaisertums Österreichs, besonders des Staatskirchensystems, offen. Seine Ausführungen fußten auf Texten des österreichischen Juristen Thomas Dolliner. Die Sondersituation der Entstehung des Kaisertums Österreich als ein „Nachfolgestaat“ des Heiligen Römischen Reichs während dessen auslaufender Existenz erzeugte im Zusammenspiel mit den reichsrechtlichen Gegebenheiten starke Wechselwirkungen zwischen säkularen und sakralen sowie zwischen inländischen und internationalen Rechtsnormen. Dolliner habe dabei die Diözesanreform Josephs II. juristisch und propagandistisch unterfüttert. Fillafer konnte drei zentrale Gedanken für die Arbeit Dolliners ausmachen: zunächst die Frage, inwieweit die Reichskirchenverfassung dem Kaisertum Österreich als „Werkzeugkiste“ für die Organisation von Religionsvielfalt dienen könne. Der zweite Aspekt, dem sich Dolliner widmete, war, ob die Toleranzgesetze Josephs II. den Charakter von Verfassungsgesetzen hätten oder nur temporäre Zugeständnisse seien. Drittens sei die Frage nach den Vorstellungen von Kollegialverfassung und Episkopalverfassung sowie ihrem Nachleben und ihrer Rezeption, insbesondere in Bezug auf die Erwerbung Galiziens, von zentraler Bedeutung gewesen.

In der anschließenden Besprechung betonte Fillafer, dass Dolliner zwar die abnehmende Bedeutung des Reichsrechts wahrnahm, diesem aber weiterhin anhing und darin verhaftet blieb. Auch diese Diskussion warf die Frage nach dem sozialgeschichtlichen Hintergrund auf, gerade in Bezug auf die Vielgestaltigkeit der habsburgischen Länder. Für Dolliner und andere Akteure sei eine besondere Aufstiegsbiographie auffallend. Ausgehend von der Transformation des Reichs in seine Nachfolgestaaten und der Rolle von Kriegen und Macht stand abschließend zur Debatte, inwieweit die gelehrten Diskurse nur im Verhältnis mit der eventuell zentral bestimmenden Machtfrage erklärbar seien. Fillafer betonte in diesem Zusammenhang für Österreich die Relevanz der Bemühungen um Rechts- und Staatsreformen und plädierte dafür, gerade auch die Geschehnisse von 1848 mehr in sozialen als in nationalen Bruchlinien zu begreifen und somit die Sprengkraft des „nationalen Pulverfasses“ zu relativieren.

Der Workshop führte vor Augen, dass sich eine Neubetrachtung der Auseinandersetzungen über das Staatskirchentum in der Spätphase des Reichs vor allem in der Perspektive der modernen Staatsbildung sowie der Herausbildung von Öffentlichkeiten lohnt. Zusammen mit Fragen nach den Argumentationsstrukturen, nach den sozialgeschichtlichen Hintergründen der Akteure und nach dem Textgenre bzw. der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der akademischen Kanonistik zeigten sich hier neue Forschungsansätze im Rahmen der anhaltenden Diskussion über die „katholische Aufklärung“.

Konferenzübersicht:

Ferdinand Kramer (München): Einführung

Thomas Wallnig (Wien/München): Febroniusʼ De statuecclesiae aus der Perspektive der 1720er und 1730er Jahre

Markus C. Müller (München): Johann Georg von Lori & Peter von Osterwald – zwei bayerische Kanonisten?

Rainald Becker (Augsburg): Jesuitische Korrespondenz mit Nordamerika

Franz L. Fillafer (Wien): Kanonistische Kuckuckseier? Thomas Dolliner und die Überleitung des Reichsreligionsrechts in das Staatskirchensystem des Kaisertums Österreich

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